Tjungur - Gorno-Altaisk

14. August
Gepäckabladen in Tjungur

Um 13:30 Uhr erreichen wir Tjungur. Bereits von Weitem ist die große Hängebrücke zu sehen, über die vor knapp zwei Wochen unser Fußmarsch begann.
An der gleichen Stelle, an der damals unser Bus hielt, steigen wir vom Laster und laden die Rucksäcke ab. Die Sonne brennt und es ist heiß, aber nur wenige Meter von uns verspricht der Katun Erfrischung.

Es gibt aber zunächst Wichtigeres als ein kühles Bad im Fluß: Brot oder irgendeine andere feste Nahrung haben wir nicht mehr; die letzten Nahrungsmittel, die wir besitzen, bestehen aus zwei Portionen Tütensuppe.
Vorm Dorfkonsum

Jörg, Stephen und Tobias brechen sofort auf zum Dorfladen. Uns ist klar, daß wir uns nicht darauf verlassen können, auch nur die notwendigsten Dinge in jedem Fall zu bekommen. Abgesehen davon wissen wir, daß die hiesigen Geschäfte über Mittag meist lange geschlossen sind ...

Wir anderen bleiben inzwischen beim Gepäck und den Zelten. Die Wiese zwischen Katun und der unbefestigten Dorfstraße dient auch als Weidefläche. Kühe und Schweine laufen um uns herum.
Die Einheimischen, die vorbeikommen, schauen neugierig herüber. Eine Frau auf einem Pferd bekreuzigt sich, als sie uns erblickt. Ein alter, zerlumpter Krüppel setzt sich zu mir, raucht eine Zigarette und fragt nach Woher und Wohin.

Bald darauf sind die Einkäufer zurück - der Laden hat bis 17 Uhr geschlossen. Uns bleibt nichts übrig als zu warten, wir gehen im Katun baden und legen uns in die Sonne.
Nach um Vier ziehen wir erneut los, diesmal komme ich mit. Natürlich sind wir zu zeitig da, vor der Ladentür hängt ein Vorhängeschloß. Also wieder warten.
Kurz vor 17 Uhr sammeln sich plötzlich immer mehr Leute vor dem Gebäude und obwohl wir ziemlich nahe der Tür auf den Stufen sitzen, befinden wir uns unvermittelt in einem schlachtartigen Gedränge, in dem sich bereits eine große Menschenmenge einen Platz zwischen uns und der Tür erobert hat.
Wir sind zu fünft, und so wird, als die Tür aufgeht, zumindestens einer in die richtige Richtung mitgerissen - nämlich dorthin, wo die frischen Weißbrote zu haben sind. Zum Glück ist Jörg ziemlich groß und so kann er einige davon gleich über die Köpfe der drängelnden Menschen an uns nach hinten reichen. Nur auf diese Weise ergattern wir mehr als zwei Brote ...
Dazu nehmen wir einen Stapel Fischbüchsen mit - viel größer ist die Auswahl nicht.

Wieder draußen, setzen wir uns erst einmal in den Schatten auf die Straße und schlachten die erste Fischbüchse. Ein ganzes Brot wird dabei alle.
Danach schauen wir nochmal in den Laden hinein, ob noch etwas Nützliches für uns zu finden ist. Der Menschenauflauf hat sich inzwischen aufgelöst und etwas später erkennen wir auch den Grund: Das frei verkäufliche Brot ist inzwischen alle, jetzt würde man nur solches noch auf Marken bekommen.

Zeltwiese am Katun in Tjungur

Zurück an unseren Zelten erfahren wir, daß der Doc inzwischen einen Busfahrer überzeugt hat, uns morgen Richtung Gorno-Altaisk mitzunehmen, obwohl wir keinerlei Reservierung haben. Ein kleines Päckchen Kaffee aus seinen geheimen Reserven wechselte dabei wohl den Besitzer. Das Wichtigste: Es ist sogar der Expreßbus, der die Strecke bis Gorno-Altaisk ohne Zwischenübernachtung durchfährt ! Für 12 Uhr ist die Abfahrt geplant.

Eine weitere Touristengruppe taucht auf, soweit wir verstehen, sind es Letten. Sie bekommen mit, daß wir für den nächsten Tag Platz im Bus in Aussicht haben und hoffen, daß sie sich irgendwie anschließen können. Wir sind uns unsicher, wie der Busfahrer darauf reagieren würde und versprechen daher nichts.
Abends sitzen wir beisammen und es gibt - was sonst - Brot mit Fisch.
Später kommen auch die Letten dazu und Jörg bekommt noch ein Eisbeil geschenkt. Noch lange diskutieren wir besonders mit einem von ihnen über die Zukunft. Er behauptet, Hellseher zu sein und sieht Gorbatschow als großen Demagogen an ...

15. August

Um 8:30 Uhr ist plötzlich Hektik: Der Busfahrer hatte jemanden von uns geweckt mit dem Hinweis, er würde gleich losfahren. In aller Eile bauen wir die Zelte ab und packen ein, bereits um 9:30 Uhr fahren wir dann los. Die Letten sind nicht mit drin - ob das Absicht ist, darüber können wir nur Vermutungen anstellen.
Der Bus ist trotzdem voll, auch wir haben nicht alle einen richtigen Sitzplatz. Jörg legt sich auf die Abdeckung neben den Fahrer, unter der sich der Motor befindet.

Bis in die kommende Nacht fährt der Bus durch.
Dreimal wird Pause an einer Stolowaja gemacht: in Ust Koksa, in Ust Kan und vor der Einmündung auf die Trans-Altai-Magistrale. Ab hier ist die Straße besser ausgebaut.
Einmal gibt es noch einen Halt, weil der Fahrer an einem der Räder herumbauen will. Wir bekommen derweil eine Melone angeboten, die ungewohnt und auffallend nach Banane schmeckt.

Nachts erreichen wir die Quelle, an der wir bereits auf dem Hinweg Pause gemacht hatten, halten auch hier nochmal kurz an und können unsere Trinkflaschen nachfüllen.
Nach Mitternacht sind wir endlich in Gorno-Altaisk. Die Zeltstelle kennen wir ja bereits und schon bald sind unsere Zelte dort wieder aufgebaut. Noch schnell ein heißer Tee und eine kurz Begrüßung der Touristen aus Kirow und Odessa, die auch hier übernachten wollen, dann verkriechen wir uns in die Schlafsäcke.

16. August
Essenkochen in Gorno-Altaisk

Wir schlafen aus und als wir aufwachen, sind die anderen Gruppen schon weg. Die Pumpe, von der wir noch den Hinweis in Erinnerung haben, sie sparsam zu nutzen, liefert überhaupt kein Wasser mehr.
Zum Glück reicht das Wasser in unseren Flaschen noch zum Teekochen. Außer dem restlichen Brot aus Tjungur holt plötzlich noch jemand eine Büchse Leberwurst hervor. Wir wissen außerdem, daß unweit im KCC-Büro noch ein paar Reservern liegen, die wir seinerzeit hiergelassen hatten.
Jörg, Almut und Christian machen sich auf in die Stadt, um die Möglichkeit eines Fluges nach Novosibirsk zu erkunden. Wir anderen wollen später einkaufen gehen und außerdem ins KCC-Büro, um unsere dort deponierten Sachen abzuholen.

Nachmittags um 16 Uhr sind Jörg, Almut und Christian wieder da: Nach Novosibirsk zu fliegen ist nicht möglich. Also werden wir doch spätestens in 3 Tagen von Biesk aus mit der Bahn dorthin fahren müssen. Aber durch den Expreßbus gestern haben wir zwei Tage gewonnen, die wir nun noch hier verbringen können.

Im KCC-Büro ist nur ein Vertreter da, den wir nicht kennen. So holen wir nur unseren Sack ab, in dem jeder das vermeintlich Überflüssige zurückgelassen hatte.
Unser darauffolgender Einkaufsbummel ist nur mäßig erfolgreich: Saft in den bekannten 5-Liter-Gurkengläsern nehmen wir mit, außerdem Gebäck und frische Gemüsepaprikaschoten. In einer Kaufhalle sehen wir große Gitterkörbe im Gang stehen und entdecken bei genauerer Betrachtung, daß es sich bei den Batzen darin um rohe Leberstücke handeln muß - wir verzichten.

Abends um sieben sind wir alle wieder an den Zelten. Doc sortiert seine Arznei und wir machen "Börse": aus dem Einkauf von heute zusammen mit den wieder eingesammelten Vorräten, darunter noch eine ganze Salami und ein Glas eingelegtes Gemüse, können wir ein 5-Gänge-Menü zaubern.

Christian senior geht abends nochmal los, weil er zumindest ein Telegramm an die Kazaner Gruppe schicken will, die uns ursprünglich eingeladen hat. Wir stellen uns das nicht einfach vor, aber in meinem Tagebuch wird später stehen: "und er löst das auch!".

Bis jetzt hatte es mich verschont, aber diese Nacht kam er dann, der obligatorische Durchfall.

17. August

Stadtbesichtigung Gorno-Altaisk

Unser Doc, sein Sohn Christian und Christian senior machen sich auf, das hiesige Krankenhaus zu besuchen - einfach nur, um die ungenutzten Medikamente unserer Tour dort vielleicht einer sinnvollen Verwendung zuzuführen. Darunter waren Antibiotika, Herzmittel und Breitbandserum gegen Schlangengift.

Wir anderen machen einen Stadtbummel, überlegen, was wir mit den restlichen Rubel-Reserven anstellen können.
Eine Idee ist, Goldschmuck zu kaufen. Zuhause, also in der DDR, muß man normalerweise eine entsprechende Menge Gold abgeben, um sich zum Beispiel Ringe machen zu lassen.
Auch in eine Bar gehen wir hinein. Das Alkoholverbot ist zwar inzwischen etwas gelockert, aber hier bekommen wir nur Saft oder Eis.

Nachmittags - wieder an unserer Zeltstelle - werden wir mit einem Krankenwagen zur Stadtrundfahrt abgeholt. Später kommt sogar noch ein Zweiter dazu. Scheinbar war das Kontakteknüpfen im Krankenhaus erfolgreich.
Baden im Katun

Die Gastgeber, ein russlanddeutscher Arzt und sein Begleiter, zeigen uns die Stadt und insbesondere eine im Bau befindliche Kirche - dies war für uns etwas Ungewöhnliches und sicherlich erst recht für eine westsibirische Region der UdSSR im Jahr 1989.
Wir verabreden uns mit dem Arzt zum Abendbrot am Zeltplatz. Er überreicht uns eine Flasche "Altaibalsam" als Präsent vom Klinikchef. Natürlich müssen wir nun nochmal zum "Ruinok", dem Markt, holen für's Abendbrot Tomaten, Paprika, Zwiebeln und Knoblauch.
Um halb sieben treffen wir uns wieder. Wir hatten nach einer guten Badestelle gefragt, also fährt er uns mit seinem Auto zu einem Badesee, dem See "Aja". Ein kleines, flaches und lauwarmes Gewässer, das für ihn den Inbegriff des Naherholungsgebietes darstellt. Es bedarf viel Überredungskunst, bis er mit uns an den Katun fährt und völlig verständnislos zuschaut, wie wir uns in diesem eiskalten Strom erfrischen ...

Das Abendbrot, zu dem wir ihn eingeladen haben, besteht wiederum aus mehreren Gängen. Zwischendurch bringt er sein Auto weg, um am Tee mit Altaibalsam teilzuhaben, der sich nun als ziemlich hochprozentiger Schnaps erweist. Später holt er noch eine Flasche "Stolitschnaja" heraus - dies, so wissen wir, ist erst recht Schnaps.

Es gibt viel zu erzählen und zu fragen an diesem Abend, besonders über Politik. Erst nach Mitternacht verabschieden wir uns. Der hier lebende Arzt ist sich ziemlich sicher, uns einmal besuchen zu kommen.
Wahrscheinlich nimmt an eben jenem Abend sein Plan Gestalt an, nach Deutschland zu gehen - den er später ja auch verwirklichen wird.


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